Rolf Wilhelm ist mit seinem Regionalzug Richtung Zürich unterwegs. Plötzlich sieht er vor sich einen Güterzug, beladen mit Langholz. Rolf leitet eine Vollbremsung ein und pfeift wie wild…
…Doch dieser Güterzug rollt ohne Lokomotive ungebremst auf Rolfs Regionalzug zu. Im letzten Moment flüchtet er durch den Triebwagen. Die Bäume rammen sich in den Triebwagen. Alles kracht und quietscht. Die aus den Waggons geflüchteten Passagiere betrachten den zerstörten Triebwagen. «Der Lokführer ist tot!», hört Rolf die Menschen sagen, während er zitternd und weinend an der Bahnböschung sitzt.
Erschüttert durch Unfälle und Lebensnot
Der Unfall bei Affoltern am Albis war der Anfang einer ganzen Serie von Unglücken in Rolfs Laufbahn als Lokführer. Einmal wurde er im Gleisfeld beinahe zwischen zwei fahrenden Lokomotiven zerrieben: Eine Lokomotive hatte ein „Halt“ zeigendes Signal über-fahren, prallte seitlich auf die andere und kippte. Rolf stand dazwischen und versuchte, die eine Lokomotive mit seiner Hand zu stützen – unverletzt.
Noch am selben Tag liess ein Wärter die Schranken geöffnet, während Rolf mit seinem Zug dahergebraust kam. Der Tacho zeigte 110 km/h. Frauen spazierten mit ihren Kinderwagen ahnungslos über den geöffneten Bahnübergang. Die Lokomotive kam direkt vor dem Übergang zum Stehen. Der geschockte Wärter liess die Schranken noch herunterprasseln.Die Frauen hatten die Geleise gerade überquert. Zwei Sekunden retteten ihr Leben.
Rolf fuhr weiter. Doch im nächsten Bahnhof wurde er angehalten, weil seine Maschine brannte. Die Vollbremsung hatte Schmiermittel an den Bremsen entzündet. Wochen später, als Rolf dann noch beinahe frontal mit einem Bauzug zusammen stiess, sagte ihm ein Vorgesetzter: «Du ziehst Eisen förmlich an. Andere Lokführer sind vierzig und mehr Jahre lang unfallfrei unterwegs, und du fährst von Unfall zu Unfall.» Die Bauarbeiter sprangen nach eingeleiteter Bremsung vom Zug. Sie beschimpften Rolf, weil ihre Signale alle freie Fahrt zeigten. Es stellte sich heraus, dass die Weichen nach einer Reparatur falsch angeschlossen wurden und deshalb beide Züge einander auf demselben Gleis entgegenfuhren.
Rolf verarbeitete die Unfälle auf seine Weise. Er brachte nach dem Zusammenstoss bei Affoltern 500 Franken als Spende in die Kirche. Sein Dank für die Bewahrung! Auch nach den nächsten Unglückstagen besiegelte er die Sache mit einer schönen Spende. Irgendwie hatte ja wohl Gott seine Hand im Spiel. Der Tod konnte jedenfalls trotz grösster Gefahr nie zugreifen. «Jeder Unfall bewegte mich sehr, doch die Zeit heilt Wunden. Ich vergass und verdrängte die Erlebnisse, ohne dahinter eine tiefere Bedeutung wahrzunehmen.»
Daheim lag in dieser Zeit auch vieles im Argen. Wilhelms Ehe war von Anfang an alles andere als stabil. Die Interessen der beiden Ehepartner waren sehr unterschiedlich. Irena wollte nach der Heirat das Leben geniessen. Sie war streng katholisch erzogen worden und durfte vieles nicht tun, was sie gerne gewollt hätte.
Als sie dann dem Einfluss der Eltern endgültig entronnen war, wollte sie ständig etwas unternehmen: Discos, Parties, Reisen. Wilhelms lebten fast ausschliesslich für sich selber. Sie hatten keine Kinder. Rolf wollte keine. Er war arm aufgewachsen und wollte nun lieber das Geld für sich selbst ausgeben, als sich um Kinder zu kümmern. «Wir verdienten viel. Beide arbeiteten, und in der freien Zeit halfen wir noch im Baugeschäft von Irenas Eltern mit.» Sie konnten sich fast alles leisten: teure Kleider, schönen Schmuck, elegante Möbel, lange, teure Ferien usw.
Auch mit der Treue nahmen es die beiden nicht so genau. Schliesslich hatten beide ihre privaten Rechte. Als dann Irena eines Tages auszog und mit einem anderen Mann zusammenlebte, wurde die Situation immer grotesker und unerträglicher. Auch Rolf hatte eine Freundin. Dennoch kam Irena immer wieder nach Hause, um Dinge und Situationen mit Rolf zu besprechen. Sie wurde von ihrem neuen Partner geschlagen. Die Polizei musste eingreifen. Rolf suchte Halt in der Esoterik. Rolf wurde enttäuscht. Die innere Spannung wuchs ins Unerträgliche. Er wollte Irena zurückgewinnen. In dieser Zeit begann er in der Bibel zu lesen. Sie lag jahrelang verstaubt neben dem Bett. Die Texte trafen ihn in seiner ausweglosen Situation. Er spürte, dass das, was er lebte, nicht wirkliches Leben sein konnte. Zögerlich begann er zu beten und merkte, wie Ruhe in seine aufgebrachte Seele kam.
Der christliche Glaube war Rolf nicht fremd. Seine Mutter hatte ihn und seine Schwestern in eine Evangelisch-methodistische Kirche (EMK) geschickt. Sonntagsschule, Unterricht, Jungschar. Rolf machte mit, glaubte aber nie wirklich an Gottes Liebe und Stärke. Seine Familie war geprägt von der Alkoholsucht seines Vaters. Irgendwie machten alle mit. Es war ein langer Kampf mit viel Leid und Not.
Erschüttert durch Magersucht und Untreue
Irena war ebenfalls verzweifelt. Sie hatte ihr Leben nicht unter Kontrolle. Ihr egozentrischer Lebenswandel hatte sie und ihre Beziehung zerstört. Sie litt an Magersucht, war nur noch ein Strich in der Landschaft. Wortwörtlich! 36 Kilogramm. Ihre fremde Liebe gab ihr keine neue Kraft. Im Gegenteil. Sie war hin- und hergerissen. Sie hatten sich doch geliebt. Schon als Nachbarskinder hatten sie zusammen gespielt. Rolf wusste bereits als Junge, dass er dieses Mädchen einmal heiraten möchte. Sein Traum erfüllte sich. Doch nun war auf beiden Seiten alle Romantik verflogen.
Rolf begann immer mehr auf Gott zu vertrauen. Er folgte dem Rat seiner Schwester: «Lies einfach das Neue Testament.» Die Worte begannen sein Leben zu prägen. Viele Geschichten kannte er von früher. Nun wurden sie plötzlich lebendig. So lebendig, dass Rolf sein Leben und die ganze Situation Jesus anvertraute. Er stellte die Weichen neu! Rolf richtete seine Fahrt nach Gott aus. Sein Wille gewann an Bedeutung.
Seine Vergebung begann Rolfs Leben zu prägen. Rolf kannte die Vereinigung christlicher Eisenbahner (ECV), denn er bekam von Kollegen regelmässig die Vereinszeitschrift. Die Berichte beeindruckten ihn. Rolf gab Gott mitten in seiner schwierigen Situation ein Versprechen: «Ich werde mich bei den christlichen Eisenbahnern engagieren, wenn Irena wieder zurück kommt.» Sie kam! Die Schläge ihres Partners trieben sie zurück zu ihrem Mann.
Doch die Freude dauerte nicht lange. Irena blieb nicht treu. Rolf wollte diesen Stress nicht mehr mitmachen und sagte ihr klipp und klar: «Morgen kannst du wieder gehen. Ich mache nicht mehr mit.» Irena merkte, dass es fünf vor Zwölf geschlagen hatte. Sie bat Rolf um eine letzte Chance. Ein junger, aufgestellter Pfarrer besuchte die Wilhelms und half den beiden, nach der langen Krise wieder Boden unter die Füsse zu bekommen. Drei Monate später stellte auch Irena ihre Weichen neu. Sie meldete sich zu einem zwölfmonatigen Kurs in der Kirche (EMK) an. Der Kurs war in der Gemeindezeitung ausgeschrieben und hatte den Titel «Glaubensschritte». Irena lernte viel über Gott und die Menschen. Ihr Leben veränderte sich immer mehr. Sie machte keine halben Sachen. Die Kirche wurde zu einer neuen Heimat für beide. An einem christlichen Kongress wurde Irena bewusst, dass sie Seelsorge brauchte. Sie musste ihre Magersucht überwinden und neues, intensives Vertrauen in Gott gewinnen. Auch für Rolf veränderte sich viel. Er ist sich heute bewusst, dass Gottes Gegenwart das Entscheidende im Leben ist. «Früher war mein Leben ein Rattenrennen. Ich rannte dem Geld nach und überlegte mir ständig, was ich kaufen könnte. Heute freue ich mich auch noch an den schönen Sachen, aber ich muss sie nicht mehr um alles in der Welt haben.»
Ruhe ist in Rolfs Leben eingekehrt. Die vergangenen Jahre waren ein Weg, auf dem er Gottes Liebe immer wieder neu erlebte. Bei Entscheidungen wissen sich Rolf und Irena von Gott getragen. Sie erleben, wie ihnen Gott immer wieder diese tiefe Ruhe und Geborgenheit schenkt. Sie erfahren Zufriedenheit, ohne ständig mehr haben zu wollen und haben zu müssen.
Gefühle und Gedanken der beiden Ehepartner glichen sich in den vergangenen elf Jahren immer mehr an. Sie sind nicht immer derselben Meinung, dazu ist ihr Charak-ter zu unter-schied-lich. Aber sie finden durch den Glauben immer wieder einen gemeinsamen Weg.
«Unser Glück ist nicht vom Geld abhängig, sondern von Gott.»
Irena investiert ihre Fähigkeiten in Menschen. Sie arbeitet in der Kirche mit. Sie besucht und begleitet Frauen in schwierigen Lebenssituationen. Statt immer dem Geld nachzurennen, hat sie theologische, psychologische und seelsorgerliche Kurse besucht. Auch ihre Begabung in Führung und Organisation hat sie durch Weiterbildung gefördert.
Das Leben von Irena und Rolf hat ein ganz anderes Gepräge bekommen. Kürzlich buchten sie Ferien in einer Jugendherberge. «Es war genial. Wir waren vollkommen happy. Geld macht nicht glücklich, wenn dabei das Leben nur aufs eigene Ego fixiert ist.» Rolf fährt mit seinen Loks täglich über viele Weichen. Sie erinnern ihn an seine Weichenstellung, die völlig neue Lebensqualität brachte.
Leben mit Gott! Zugehört und aufgeschrieben von Hans Ueli Beereuter