Die Wende im Herzen (Jens Grüneberg, Schweiz)

Es ist ein stahlblauer, warmer Frühlingstag, als Jens mit seinem 18 Meter langen modernen Mercedes-Citaro-Gelenkbus der VBZ die Haltestelle in Zürich- Oerlikon Nord anfährt. Seine erste Schicht führt heute drei Mal über den Höngger Berg, den Bahnhof Altstetten, Albisrieden, zum Triemli-Spital und zurück. Jede Runde dauert knapp 90 Minuten mit jeweils einer ganz kurzen Verschnaufpause an den Endhaltestellen – die je nach Verkehrsaufkommen auch mal ausfällt. 

Von Helena Gysin und Ueli Berger

Vor sechs Jahren hat es Jens Grüneberg in das Ausland gezogen – wegen der Arbeit. Heute lebt Jens mit seiner Frau Beate in der Schweiz und ist als Bus-Chauffeur bei den Verkehrsbetrieben Zürich (VBZ) tätig. Dabei schlägt das Herz des 47-jährigen sowohl für seine alte Heimat Dresden, für seine zweite Heimat Gülzow in Mecklenburg-Vorpommern und für die aktuelle Wahlheimat Saland im Tösstal im Zürcher Oberland. Grosse Teile seiner Kindheit verbrachte Jens bei seiner Urgrossmutter in Dresden. Sie gehörte zu den sogenannten „Trümmerfrauen“, welche nach der verheerenden Bombardierung Dresdens im Februar 1945 vereint mithalfen, die Stadt wiederaufzubauen. Denn die Männer waren damals entweder gefallen, gefangen oder noch an der Front. Seine Urgrossmutter prophezeite Jens damals: „Du wirst eines Tages die Chance haben, Neues kennenzulernen und Vieles auszuprobieren!“ Diese Zeit hat Jens sehr geprägt. Nach der Schule beginnt er eine Lehre als Betriebsmechaniker. Er geht für drei Jahre zur Nationalen Volksarmee der DDR und wird Unteroffizier beim Luftsicherungsdienst. Kurz bevor er zurück ins zivile Leben geht, begegnet er in Güstrow einer jungen Frau. Es bleibt zunächst bei einer flüchtigen Begegnung. Für die nächsten Monate macht er Krankentransporte und träumt von einer Karriere im Sanitätsdienst.

«Kinderüberraschung»

Ein Brief aus Güstrow holt ihn in die Wirklichkeit zurück: Er wird Vater! Sofort kündigt der damals 22-Jährige seine Stelle, obschon seine Eltern ihn eindringlich davor warnen. Doch Jens will zu Beate und zu seinem Kind. Heute sind die beiden immer noch ein Paar und ihre mittlerweile drei Kinder erwachsen. Jens erinnert sich auch an die Vorteile der DDR: „Es ging uns gut. Jeder hatte Arbeit, das Gesundheitswesen funktionierte und – wenn wir von willkürlichen Verhaftungen hörten, dann verdrängten wir das. Das Leben wurde nach der politischen Wende 1989 nicht leichter“, sinniert er. Früher habe man mit dem Nachbarn ein Schwein gemästet und nach der Schlachtung gefeiert. Vieles wurde gemeinsam erledigt, es herrschte echte Solidarität. Heute macht sich vielerorts Misstrauen gegenüber dem Nachbarn breit. Die neue Regierung des wiedervereinigten Deutschland finanzierte zwar grosszügig Ausbildungen, aber Arbeitsplätze waren Mangelware.

Job-Suche international

Wie für viele andere begann auch für ihn nach der Wende der Kampf um eine Arbeit. Breit gefächert waren seine Versuche in Lohn und Brot zu kommen, um seine Familie ernähren zu können: Er wurde Gipser und Programmierer, unterrichtete in seiner Freizeit Kinder in Erster Hilfe und versuchte sein Glück in den Niederlanden – doch der Erfolg blieb aus! Am 24. September 2006 bestieg er in Hamburg einen Zug in die Schweiz, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Ein Büro in Leipzig hat ihm gegen ein Honorar von 1500 Euro (!!) eine Stelle im Baugewerbe vermittelt. Auf der Zugfahrt kommt er ins Gespräch mit einer deutschen Frau aus Baden – Württemberg, die in Winterthur wohnt und mit einem Schweizer verheiratet ist. In Zürich gibt sie ihm ihre Adresse – für den Notfall. Jens Grüneberg tritt die vermittelte Stelle an, später eine zweite. Doch es klappt alles nicht richtig und bald schon steckt er wieder in Schwierigkeiten: der Lohn wird nicht ausbezahlt.

Die Lebenswende

Heute kommentiert er den damaligen Zeitpunkt mit den Worten: „Dann hat Gott eingegriffen.“ Er bekommt eine Stelle als Schlosser in Winterthur. Winterthur? Da war doch was! Natürlich – er hat die Adresse aufbewahrt. Schliesslich wohnt er zwei Wochen bei der Familie der Zugbekanntschaft und sucht während dieser Zeit eine Wohnung. Am Sonntag laden sie ihren Gast zum Gottesdienst ein. Eigentlich hat er keine Lust hinzugehen, aber geht trotzdem mit – man ist ja höflich. Die Menschen in der kleinen evangelischen Kapelle sind äusserst freundlich. Die spürbare Herzenswärme und Echtheit der Gemeindeglieder wischten seine anfänglichen Bedenken, er könnte in eine Sekte geraten sein, schnell vom Tisch. Trotz staatlich verordneter Abwesenheit von Religion dachte Grüneberg schon damals immer: «Es muss zwischen Himmel und Erde mehr geben, als das was wir sehen können.» Wer sich damals in der DDR offen zum christlichen Glauben bekannte, hatte erhebliche Nachteile im öffentlichen Leben. Bekennende Christen wurden diskriminiert, indem ihnen gute Wohnungen, Studienplätze oder Möglichkeiten für eine berufliche Karriere vom Staatssystem gezielt verwehrt wurden. Ein Kurs „Einführung in den christlichen Glauben“ von Alphalife gibt Jens dann die Gelegenheit, all die Fragen über „Gott und die Welt“ zu stellen. Das Gebet, in dem er Jesus Christus in sein Leben bittet, lässt nicht lange aus sich warten. Jens erlebt in seinem Herzen eine Wende. „Gott liebt mich bedingungslos und ich gehöre zu ihm!“, wird für ihn zur Glaubensgewissheit, die auch in schwierigen Zeiten trägt.

Berufliche Wende

Kurz nach der Hinwendung zu Gott verliert er als Folge der Wirtschaftskrise erneut seine Stelle. Über längere Zeit erzählt er seiner Frau nichts davon. Irgendwann fragt ihn ein Freund: „Wie lange willst du diese Lüge gegenüber Beate aufrechterhalten?“ Er entscheidet sich für die Wahrheit. Der junge Christ erlebt danach, dass der Glaube auch in Krisenzeiten trägt. Nach einigen Gelegenheitsjobs begann Jens Grüneberg im März 2010 eine Ausbildung zum Bus- Chauffeur (VBZ) in der Stadt Zürich. Jens erklärt: „Ich bin gerne Bus-Chauffeur und liebe die Herausforderungen!“ Regionallinien, Nachttouren und das Fahren mit grossen Bussen sind für ihn solche Herausforderungen. Regionallinien haben ihren besonderen Reiz. Über Land hat man ganz andere Aussichten als in der Stadt – und man muss Fahrkarten verkaufen. „Dies ergibt automatisch mehr Kundenkontakt, gute Gespräche und man kennt sich mit der Zeit“, erzählt Jens weiter. Auf die Frage, wie er mit schwierigen Fahrgästen umgeht, sagt er: „Meine Maxime ist, eine gütige Freundlichkeit zu bewahren. Ich bin überzeugt, dass mit Freundlichkeit schon viel negative Energie aufgefangen werden kann. Wenn ich selber ein bitterböses Gesicht mache, sende ich auch eine Botschaft an den Kunden. Diese Botschaft empfängt der Kunde vielleicht als «Du bist ein Störenfried» oder ähnliches.“ Jens ist überzeugt, eine aufrichtige Freundlichkeit kann viel mithelfen, schwierige Situationen zu deeskalieren. Ein anderer Aspekt ist, dass er nicht als Erzieher, sondern als Bus-Chauffeur angestellt ist. Fahrgäste (im Zweifel auch Angetrunkene) sicher von A nach B zu transportieren, ist seine Aufgabe. „Die oftmals geforderte Zivilcourage gegenüber Störenden darf dabei aber nicht einseitig auf Einzelne wie uns Bus-Chauffeure abgeschoben, sondern muss von der ganzen Gesellschaft getragen werden“, argumentiert Jens weiter. Oft betet Jens vor Beginn einer Tour. Ihm ist bewusst, dass ihm während seinem Fahrdienst viele Leben anvertraut werden. „Dieses Vertrauen der Fahrgäste in unser Transportsystem und in meine Arbeit fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Diese Einstellung motiviert mich, jeden Tag für unsere Kunden das Beste zu geben und so auch eine lebendige Visitenkarte für Gott zu sein“, bezeugt Jens weiter. „Es ist nicht eine Frage, was für eine Arbeit mit wem ich mache, sondern mit welcher Einstellung ich diese verrichte.“

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